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Beitrag vom 16.10.2007
Heimatklänge
Clarissa Lempp
Beim Wort "Jodeln" wird gleich an Alphörner und klatschende SeniorInnen im Musikantenstadl gedacht. Stefan Schwietert beweist mit seinem Film, dass das Jodeln mehr Seiten hat. Und die sind …
wundersam.
Die Suche nach der Stimme ist das zentrale Thema der drei ProtagonistInnen, die Schwietert in seinem Dokumentarfilm vorstellt. Die Suche nach der eigenen Stimme ist auch die Suche nach der Heimat. Erika Stucky kam als zehnjährige aus den USA mit ihrem Schweizer Vater nach "Heidiland". Eigentlich hätte sie Hulahoop-Tänzerin werden wollen. Jetzt hat ihr Weg sie aber zum Jazz und zum Jodeln geführt: "Ich nehme an, der Mensch hat irgendwann mal Lust gehabt beim Reden, den Genuss noch zu verlängern… Wenn du anfängst, dein Herz auszubreiten, dann wird der Ton länger. Du wirst nicht knapper, wenn du Emotionen hast."
Christian Zehnder hat zusammen mit dem Alphornisten Balthasar Streiff als Duo "Stimmhorn" in den letzten Jahren internationale Bekanntheit erlangt. Diesen gewaltigen Bergen, sagt Zehnder, muss man etwas entgegensetzen. Für ihn ist die traditionelle Musik nicht stehen geblieben. Mutig experimentiert er in seinen Performances mit Jodeln, Scatvocal und Obertongesang. Für ihn sind die Menschen und ihre Stimmen eng mit der Landschaft in der sie leben verbunden. Der Film begleitet ihn auf seiner Reise nach Tuva, wo er sich mit den weltbekannten Obertonsängern Huun Huur Tu in der Improvisation austauscht.
Schon im zarten Schuljungenalter erreichte der Appenzeller Noldi Alder zusammen mit seinen Brüdern als traditionelle Volksmusik-Gruppe "Alder Buebe" internationale Berühmtheit. Die alten Lieder, die Klänge und Geräusche seiner Umgebung sind für ihn heute mehr denn je Inspirationsquelle. Er gilt als experimentellster und innovativster Jodler und Sänger der Schweiz. Sein besonderes Augenmerk gilt den "Zäuerli", langsame Jodellieder die von einer bizarren Traurigkeit und Wildheit getragen werden. Aber er weist auch bei einem Besuch auf dem Berghof seines Vaters auf die ursprüngliche Bewandheit des Jodelns hin: es war zur Kommunikation über die weiten Strecken in der rauen Berglandschaft bestimmt. So pragmatisch denkt die ZuschauerIn aber schon längst nicht mehr. Die seltsamen, sphärischen Klänge aus den Kehlen dieser ungewöhnlich offenen und lebensliebenden Menschen haben sie längst entrückt. Über den Interviews, den Landschaftsbildern, den Super-8 Aufnahmen von Erika Stucky und den Mitschnitten von Life-Performances, erwächst stetig, eigenwillig und melancholisch eine Jodelmelodie. Sie zieht am Ende über die neblige Berglandschaft und bleibt schließlich auf dem Gipfel verweilend, auf dem drei außergewöhnliche KünstlerInnen über der Wolkendecke stehen und juchzen…
"Das Allerschönste an der ganzen Sache ist, wenn man singen kann, ohne dass man sich an etwas anlehnen muss. Wir können so frei sein. Wenn wir wüssten, wie frei wir sein könnten, würden wir zerplatzen." (Noldi Adler)
Stefan Schwietert ist 1996 mit "A Tickle in the Heart" der Durchbruch gelungen. Der in Basel geborene, aber seit etlichen Jahren in Berlin lebende Filmemacher hat sich dem Musikfilm verschrieben. Seine Filme wie "El accordeón del diablo" (2000), "Das Alphorn" (2003) oder "Accordion Tribe" (2004) sind, ausgehend von einem Instrument, geprägt von verschwindenden Traditionen und anbrechendem Neuem. "Heimatklänge" erhielt auf der diesjährigen Berlinale den Readers Award (Tagesspiegel) und wurde neben anderen Auszeichnungen als Musikfilm, als bester Dokumentarfilm für den Europäischen Filmpreis 2007 nominiert.
AVIVA-Tipp: Vor einer atemberaubenden Landschaft treffen sich drei ungleiche Charaktere die dem gleichen Instinkt folgen: die musikalische Verquickung von Moderne und Tradition, dabei benutzen sie das urtümlichste aller Instrumente, die menschliche Stimme. Ein Experiment, das zutiefst berührt und ungeahnte Emotionen freisetzt.
Heimatklänge
Vom Juchzen und andern Gesängen
Schweiz 2007
Mit Erika Stucky, Noldi Alder, Christian Zehnder, Sina, Stimmhorn, Huun Huur Tu
Buch, Regie: Stefan Schwietert
Kamera: Pio Corradi
Musik: Knut Jensen
Sounddesign: Oswald Schwander
Ton: Dieter Meyer, Jörg Höhne
Montage: Stephan Krumbiegel, Calle Overweg
Länge: 81 Min.,
Sprache: Schweizer-Deutsch mit deutschen Untertiteln
Heimatklänge im Internet: www.heimatklaenge.ch